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documenta 15

06.07.22

Junge Welt, 6.7.


Mit den Augen des Südens


Wer Risiken eingeht, macht Fehler. Warum die Documenta 15 trotzdem genau zum richtigen Moment kommt und unbedingt sehenswert ist

Als Anfang 2019 feststand, dass eine Gruppe von Veranstaltungsorganisatoren aus Jakarta die nächste Documenta kuratieren sollte, trauten viele in der Kunstwelt ihren Ohren nicht. Keine anerkannte Kuratorin? Kein Wichtigtuer aus dem Betrieb? Die Findungskommission ging mit dieser Entscheidung ein enormes Risiko ein. Im nachhinein gibt ihr das Ergebnis recht. Die Documenta 15 ist zwar so kontrovers wie selten, aber sie kommt genau zum richtigen Zeitpunkt mit den richtigen Themen und krempelt das Großausstellungsunwesen auf unerhörte Weise um.

Sicher: Es wurden Fehler gemacht, wie immer bei riskanten Unternehmungen. Aber herausgekommen ist eine Ausstellung, die zeitgenössischer kaum sein könnte und politisch den Kern der Konflikte trifft. Und das, obwohl 2019 niemand ahnen konnte, dass erst eine Pandemie die Welt heimsuchen und dann die Ausstellung mitten im Krieg stattfinden würde.


Zu den Fehlern zuerst, weil überall davon die Rede ist, und zwar so umfänglich, dass die eigentliche Ausstellung viel zu wenig Beachtung findet. Der deutsche Umgang mit Judenhass und Antisemitismus ist mehr als zwiespältig. Ein historisches Relief darf mit Erklärung gezeigt werden. Richtig. Zugleich wird ein Botschafter, der aus seiner Verehrung für Nazis und Judenmörder keinen Hehl macht, im Bundestag gefeiert. Und nun soll wegen eines 20 Jahre alten Wimmeltriptychons, das zwei Figuren zeigt, die antisemitisch gelesen werden können, auch wenn die Urheber diese Lesart klar ablehnen, die gesamte Documenta verdammt werden? Das passt nicht zusammen. Vermutlich ist die Ursache für die ganze Aufregung eine Spur tiefer zu suchen. Und dort liegt genau der Grund, warum die Ausstellung einen geradezu hellsichtigen Kommentar zur Weltlage abgibt.


Tatsächlich rüttelt diese Documenta an den Grundfesten eines westlich geprägten Kunst- und Kulturverständnisses. Der ästhetisch geschulte Blick läuft ins Leere. Aus den Arbeiten spricht eine viel lebensnähere Haltung zur Kunst und zur Kultur im Ganzen. Nur gelegentlich finden sich noch Einzelwerke von Großkünstlern. Aber sie wirken im Gesamtkontext seltsam fehl am Platz.


Um das an einem Beispiel zu zeigen: Auf der Empore der Kirche St. Kunigundis steht eine Skulptur von Henrike Naumann und Bastian ­Hagedorn. Ein Schildchen erklärt, worauf sich das Werk bezieht. Kunsthistoriker werden bemerken, dass sich die Skulptur ästhetisch an das Werk von Reinhard Mucha anlehnt. Damit wäre das erledigt, was man gemeinhin als »Verstehen« bezeichnet. Viel mehr als diese Referenz führt das Werk nicht vor. Die Skulpturen der haitianischen Künstler »Atis ­Rezistans« in der Kirchenhalle sprechen eine vollkommen andere Sprache. Zwar kann man sie als Versuche lesen, den westlichen Kunstkult zu imitieren. Dann würden sie einfach in die Kategorie Ethnokitsch fallen. Aber tatsächlich drückt sich in den Materialien, in der Haltung, in der Ausdrucksform der Figuren eine ganze Lebenswelt mit all ihrer Kraft aus. Dieser Überschuss setzt sich quer durch die gesamte Ausstellung fort. Der abgehobene ästhetische Blick mit Aussicht auf Marktverwertung wird durch den Aufruf zu Teilnahme am Leben beiseite geräumt.


Im größeren historischen Rahmen macht das eine Wendung rückgängig, die sich in Europa um 1800 vollzogen hatte. Damals wurde unter dem Begriff der Ästhetik das Machen und das Betrachten von Kunst institutionell voneinander getrennt. Die daraus resultierende Entfremdung hat über die ganze Moderne hinweg eine fatale Dynamik entfaltet und Kunst immer weiter vom Leben entfernt. Zuletzt bestand die westliche ­Praxis oft genug darin, den Kunstglobus nach Künstlern abzugrasen, um sie einem oligarchisch geprägten Kunstmarkt als ausbeutbares Material zuzuführen. Die Ergebnisse wurden dann als postkoloniale Emanzipation gefeiert, obwohl sie genau so wie die Wirtschaftspolitik des Westens nur eine verschleierte Fortsetzung des alten Kolonialismus darstellten. Es musste eine Gruppe von Kuratoren aus dem Süden kommen, um dagegen eine ganz andere Vorgehensweise zu setzen.


Vielleicht erklärt das die Enttäuschung bei vielen der heimischen Kritiker. Sie hätten sich lieber eine nach dem westlichen Wertemodell geordnete Großkünstlerausstellung gewünscht. Um so mehr Respekt gebührt der Gruppe Ruangrupa, dieses eingefahrene Ausstellungsformat in den Fundamenten erschüttert zu haben. Es ist im übrigen nicht das erste Mal, dass eine Großausstellung mit ähnlichen Formaten experimentiert. Francesco Bonami war mit seiner Utopia Station bei der Venedig-Biennale 2003 auf einem ähnlichen Weg.


Der Aufstand gegen die westlichen Werte beginnt gleich bei den Grundbegriffen dieser Documenta: dem »Lumbung« und in zweiter Reihe auch dem »Nongkrong«. Lumbung steht für die Reisscheune, aber nicht den privaten, auf Profit ausgerichteten Betrieb, sondern für den gemeinsamen, von allen genutzten Speicher. »Nonkrong« kommt aus dem Slang von Jakarta und heißt so viel wie »zusammen abhängen«. Beide Konzepte lassen sich geradewegs politisch und ökonomisch lesen – als Aufforderung, aus der Mühle des Wettbewerbs auszubrechen, in die der Westen schon die Kinder in der Schule hineindressiert. Kein Wunder, dass Fans des Hamsterrads viel besser mit dem Siegerkünstler als Typus des Leistungsträgers leben können.


Wie hellsichtig und mutig die Entscheidung war, ein Kollektiv aus dem globalen Süden einzuladen, zeigt sich gerade in der seit damals vollkommen veränderten Weltlage. Diese Documenta führt vor, wie falsch der Weg des Westens ist, die Hegemonie protektionistisch zu verteidigen und sich provinziell gegenüber dem Rest der Welt abzuschotten. Wahrscheinlich liegt darin auch der Grund, warum so zornig auf die Ausstellung eingedroschen wird. Die Betrachter sollten sich davon nicht beirren lassen. Es gibt auf dieser Documenta viel zu lernen, gerade im Verhältnis eines ehemals dominanten Westens zu einem sich nun endlich befreienden Süden. Wahrscheinlich wird es fürs erste die letzte weltoffene Documenta sein, denn es steht zu befürchten, dass die kommenden Kunstausstellungen im provinzialisierten Westen fortan »wertegeleitet« sein werden.


Um so mehr lohnt es sich, nach Kassel zu reisen, um die Documenta 15 zu sehen. Einmal mehr gelingt es der Kunst, den politischen und gesellschaftlichen Verhältnissen weit voraus zu sein, auch wenn es dieses Mal gar nicht wirklich angestrebt war, sondern in einer lebensnahen kulturellen Praxis einfach nur geschieht.


Documenta in Kassel, noch bis 25. September 2022

https://documenta-fifteen.de